Schriften zum virtuellen Museum

Werner Dahm
1900
Leben in Uthweiler um die Jahrhundertwende

In: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bürgervereins Uthweiler e.V., 1996

Wie sah es in Uthweiler zu Beginn unserer Zeitrechnung aus? Antwort: Urwald, allerdings rheinischer mit Eichen und Hainbuchen. Und vor 1000 Jahren? Tiefstes Mittelalter! In der ersten fränkischen Rodeperiode wurde der Eichen-Hainbuchenwald von Rodegemeinschaften siedlungsmäßig erschlossen. Oberpleis und Stieldorf waren die Zentren der fränkischen Landnahme im Pleiser Hügelland. Dort und auf den Einzelhöfen drumherum durften die damaligen Hofpächter und ihr zahlreiches Gesinde fleißig Steuern und Abgaben für den Landesherrn erwirtschaften. Um das Jahr 900 wird ein Hof in „Utwilere“ genannt.1 Lang, lang ist`s her.

Und wie sah es vor nur 100 Jahren aus? Schauen wir uns mal etwas ausführlicher im Uthweiler der Jahrhundertwende um, also 1900, vielleicht auch l890 oder 1910. Wie lebte man in Uthweiler in der „Kaiserzeit“?

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Dorfansicht von Uthweiler um das Jahr 1900

Bimm, bimm, bimm, die Eisenbahn... Damit anzufangen wäre falsch. Zuerst die Landwirtschaft, denn die damals gut hundert Einwohner des Dorfes lebten hauptsächlich von Ackerbau und Viehzucht. Dafür waren die Bedingungen sehr gut, denn der Pleisbach und einige Quellen am Talhang lieferten Wasser, und der Lößboden war fruchtbar. - Wer heute in Uthweiler keinen Nutzgarten bestellt, ist selber schuld.
 
Bauern

Um die Jahrhundertwende gab es in Uthweiler etwa ein halbes Dutzend „decke Buure“. Sagen wir mal, das waren die Bauern, die ein Pferd zum Ackern hatten: Dahm, Lichtenberg I („Drücks“, heute Schmitz), Lichtenberg II (,,Krings“, heute Bergmann), Meys (heute Kurz). Pütz (heute Wicharz), Rörig (Mühle) und Wierig (nur noch Wohnhaus neben der Kapelle).

Von den Bauernhöfen wird heute nur noch der Hof meiner nicht verwandten, rein zufälligen Namensvettern Dahm betrieben. Wie wirtschaftete nun damals beispielsweise Urgroßvater Michael Dahm (geb. 1840, gest. 1910)? Erfreulicherweise hat er in seinen "Notizen der Ackerwirtschaft“2 gewissenhaft Buch geführt und für das Jahr 1886 notiert:
5 ha Ackerland
1 ha Wesen
1 ha Holz
insgesamt 7 ha Land (=28 Morgen)

In seinem Stall standen 1 Pferd, 4 Kühe 2 Rinder. Außerdem liefen 12 Hühner rum. Das war’s. Später kamen noch zwei Schweine dazu.

Für die Feldarbeit und die Arbeit im Stall zählt er an totem Inventar auf:

asch und Haken

Dreschmaschine

3 kleine Waschbütten

eiserner Pflug

Rübenmühle

1 große Waschbütte

Erntewagen

4 hölzerne Eimer

2 Holzbeile

Schlagkarre

1 große Viehbütte

1 Butterfass

2 Eggen

2 Blecheimer

1 Schippkarre

1 Walze

1 kupferner Eimer

1 Bindekette

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3 Mistgabeln

2 Leitern

Pferdegeschirr

2 Erntegabeln

2 Getreidemaße

Wannmühle

1 Hobelbank mit Werkzeug

5 Fruchtsäcke

Göpelmaschine

1 Schleifstein

3 Siebe



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Firmenstempel

Seit 1893 betrieb Michael Dahm ein ,,Lager in allen Sorten" mit allem, was die Leute in Uthweiler und den umliegenden Dörfern für Haus, Hof und Feld brauchten.

Hatte ein Bauer auf seinem Land Bodenschätze in Form von Ton, Basalt oder Quarzit, wurden diese abgebaut. Michael Dahm hatte das Glück und konnte 1895 und in den folgenden Jahren 4 bis 8 Männer beschäftigen, um auf seiner Weide und auf der anderer Seite des Pleisbaches gegenüber der Mühle Ton zu stechen. Diese Arbeit machte man aber nur im Sommer von Mai bis August. Der Ton wurde dann zum TeiI am Bahnhof auf die Pleistalbahn verladen, um in Ziegeleien zu Ziegelsteinen gebrannt zu werden.

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Wohnhaus Baujahr 1903 mit Aufschrift „Jos. Dahs: Fa. Dahs und Neuenfels Baumschulen Blankenbach“ (Siegburger Straße 278)


Die heute noch zahlreich vorhandenen Neubauten aus der Zeit um 1900 wurden aus rotem oder gelbem Ziegelstein gebaut. Manchmal wurden zur Gestaltung einer dekorativen Fassade sowohl gelbe als auch rote Ziegelsteine verwendet. Bei Ställen wurde wenigstens das Untergeschoss aus Ziegelsteinen gemauert, weil Ziegelsteine dem anfallenden Mist besser standhielten als die Balken des Fachwerks. Das Obergeschoss des Stalls als Lager für Heu und Stroh setzte man dagegen oft noch in traditioneller Fachwerkbauweise auf.
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Stall des ehemaligen Bauernhofes Meys (Hauptmannstraße 7)


Bei der vielen Arbeit reichte die Arbeitskraft der manchmal zahlreichen Familienmitglieder oft nicht aus. Man brauchte einen Knecht, oft auch eine Magd, die neben einem geringen Lohn Kost und Logis im Haus bekamen. Traditionell wurde nach der Ernte am Martinstag (11. November) der Jahreslohn ausgezahlt, der dann meistens nur noch ein Restlohn war, weil der Knecht sich gelegentlich schon Vorschüsse für Tabak, eine neue Hose und Kirmesgeld für Pützchens Markt geholt hatte.

Landleben

Und wie lebte man sonst so im Dorf? Das Wasser bekam man anfangs aus einem Pütz. Das konnte ein Becken mit offenem Zulauf von einer Quelle am Talhang sein oder ein gefasster Brunnen mit aufgesetzter Handpumpe. Die standen am liebsten vor dem Haus neben der Haustür. Um 1900 wurden in Uthweiler an mehreren Stellen Brunnen gefasst, das heißt Bassins gebaut, und das Quellwasser in Rohren zu den Häusern in die sogenannte Steinküche geleitet. Auf der rechten Pleisbachseite gab es Bassins am Buchholzer Berg, in Blankenbach und Freckwinkel. Auf der gegenüberliegenden Seite fasste der uns bereits bekannte Michael Dahm eine Quelle in der Weide am Hang nach Jüngsfeld. Er baute einen etwa 3 Kubikmeter großen Behälter aus Ziegelsteinen und führte das Wasser in einem 2 Zoll starken Eisenrohr unter dem Pleisbach durch zum Hof. Da die Lage des Bassins in der Höhe der Giebelspitze des Hauses entsprach, floss das Wasser mit natürlichem Druck. An diese Leitung wurden auch noch fünf Nachbarhäuser angeschlossen, deren Bewohner dafür halfen, den Graben für die Wasserleitung auszuheben.

Die heute so aktuelle und kostenintensive Abwasserproblematik reduzierte sich um 1900 auf das berühmt - berüchtigte Plumsklo mit Direktanschluss an den ,,Tröötekeller“. (Ob das später allgemein übliche WC = Wasserklosett zum Segen für die Menschheit wurde, darf an dieser Stelle bezweifelt werden.)

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Originallampe von 1909 im Wohnhaus Pütz

1909 soll elektrischer Strom ins Dorf gekommen sein, der in den Häusern aber nur zur Beleuchtung genutzt wurde. In jedes Zimmer kam eine Lampe. Die bis dahin benutzten Petroleumlampen blieben oft dennoch in Gebrauch. Den teuren Strom benutze man sparsam, und in den Stall ging man noch lange mit den bewährten Petroleumlampen.4

Brot wurde im holzgefeuerten Steinofen gebacken, wobei die Nachbarn das Backes des nächstgelegenen Bauern mitbenutzen. Das Brot musste dann drei bis vier Wochen reichen. Nach dem Brotbacken wurde die Restwärme des Ofens gerne noch zum Obsttrocknen genutzt. Als Wintervorrat wurden große Mengen Quetschen, Apfel- und Birnenringe getrocknet.

Das Mehl zum Brotbacken kam aus der Uthweiler Mühle. Dort wurde das Getreide von Heinrich Rörig und seinen Gehilfen geschrotet und gemahlen. Das Müllerhaus ist ein Fachwerkgebäude aus der Mitte des 18. Jahrhunderts.5 Es bildete um 1900 mit der gegenüberliegenden Gaststätte Bäsgen und einigen umliegenden Gebäuden, darunter eine Schmiede, einen eigenen Ortsteil vor dem Dorf. Da in Mühle und Schmiede reger Publikumsverkehr herrschte, war der Standort für eine Gaststätte gut gewählt. Hinzu kam, dass die Gaststätte die nächstgelegene war für die zahlreichen Arbeiter der Jüngsfelder Baumschulen. Jüngsfeld liegt zwar direkt oberhalb der Mühle, die Straße dorthin macht aber einen großen Umweg über die Pleisbachbrücke hinter Dahms Bauerhof. Um sich diesen Umweg beim Gang in die Gaststätte zu ersparen, hatte man an der Mühle eine Fußgängerbrücke über den Pleisbach gebaut.

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„Ahn de Mellech“


An heißen Sommertagen badete die Uthweiler Jugend ,,Ahn de Mellech“. Oberhalb der Mühle befindet sich im Pleisbach eine Staustufe mit seitlichem Wehr für die Wasserversorgung des Mühlenteichs. Das tiefe Wasser vor der Staustufe eignete sich gut zum Baden. Dieses Vergnügen hatten - der Zeit entsprechend - aber nur die Jungen. Wenn der Müller nicht gerade seinen Teich vollaufen ließ, floss das Wasser über die Staustufe. Dabei floss es auf der Rückseite über die Köpfe der waagerecht liegenden Basaltsäulen, aus denen die Staustufe errichtet war. Das Wasser schäumte kräftig und glich aufgeschäumter Milch. Daher bekam die Stelle den schönen Namen.

Auf den Bauernhöfen gab es neben dem Backes häufig noch ein ,,Kruck - Keuches“ für Birnenkraut. Die Birnen wurden weichgekocht, gepresst und der Saft zum Eindicken stundenlang gekocht. Das dauerte oft die ganze Nacht, und es musste ständig umgerührt werden. Den letzten Pfiff bekam das ,,Birrekruck“ durch Stücke geschälter Birnen, die in den fertigen Saft gebrockt wurden. Das Birnenkraut war beliebter Brotaufstrich. Marmelade kochte man selten, denn Zucker war eine Kolonialware und teuer.

Zu Hause in der Steinküche wurde selbst Butter gemacht. Wenn man so viel Milch hatte, dass man mehr Butter machen konnte als man selbst brauchte, trug man sie nach Siegburg zum Markt, um sie dort zu verkaufen. Aus Milch machte man auch Quark und ,,fuule Käs“. Soviel dazu. Dabei könnte man noch lange über die Arbeit in der Steinküche erzählen, denn hier wurden die meisten Produkte aus dem Garten, vom Feld und aus der Tierhaltung verarbeitet.

Statt neue Kleidung und Schuhe zu kaufen, womöglich noch nach der Mode, wurden die Sachen geflickt und gewendet. Dazu kamen Schneiderin oder Schuster jeweils für ein paar Tage ins Haus. Da diese viel herumkamen und vorher in anderen Häusern gearbeitet hatten, wussten sie sicher nicht wenig zu erzählen. Und nach der Arbeit kam das Vergnügen. Abends wurde oft vom Familienvorstand aus der Zeitung vorgelesen, während von den anderen Familienmitgliedern beim Zuhören restliche Hausarbeiten erledigt wurden. Der General - Anzeiger wurde seit 1889 für nur 30 Pfennige monatlich ,,bis zur entlegensten Hütte“ verteilt. Er erfreute sich großer Beliebtheit, denn er war parteilos, im Gegensatz zu den Gesinnungs- und konfessionellen Zeitungen. Die Texte richteten ihr Augenmerk hauptsächlich auf lokale Angelegenheiten der rheinischen Heimat und sollten in erster Linie dazu dienen, die Werbekraft der Anzeige zu erhöhen. Zur Unterhaltung enthielt die Zeitung zusätzlich Romane, Erzählungen und humoristische KIeinigkeiten.6 Dabei konnte der Hausvater schon mal eine Pfeife rauchen, werktags die kurze Pfeife und sonntags die lange Sonntagspfeife. Sollte jemandem die damalige Rollenverteilung aufstoßen, sei daran erinnert, dass die Suffragetten seither viel geleistet haben.

Wenn einer schlimm krank wurde, holte man den Doktor Frings aus Oberpleis, der dann, ebenso der Apotheker Heinen für seine Medizin, bar bezahlt werden musste. Nun gab es seit 1883 die gesetzliche Krankenversicherung. Aber sie betraf nicht die ganze Bevölkerung, sondern zunächst nur die industriellen Arbeiter. Sie war aus politischen Gründen vom Reichstag beschlossen worden zur Heilung sozialer Schäden. Man hatte sich überlegt, sozialistische Ausschreitungen nicht nur durch Repression zu bekämpfen, sondern auch die Ursachen des Sozialismus, das soziale Elend der Arbeiter in den Industriegebieten, zu beseitigen. Von der Krankenversicherung ausgenommen waren in Land- und Forstwirtschaft beschäftigte Arbeiter sowie vorübergehend Beschäftigte und Personen, welche im Krankheitsfalle Anspruch auf Verpflegung in der Familie des Arbeitgebers hatten, z. B. Hauspersonal oder Dienstboten. Insgesamt waren 1885 nur 9 % der Einwohner des Deutschen Reiches gesetzlich krankenversichert, heute sind es 92 %.7 Auf dem Lande wie in Uthweiler ging man von glücklichen und zufriedenen Untertanen aus, die keinen Grund für sozialistische Umtriebe hatten und sich im Notfall selbst zu helfen wussten.

Kirche

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St. – Michael – Kapelle, 1879 erbaut, 1968 durch Neubau ersetzt

In Uthweiler gab es scheinbar zwei Sorten von Menschen: „Pleese Uthwiele“ und „Steeldebbe Uthwiele“. Die Grenze war seit dem Jahr 948 der ,,Blanconbiechi“, der Blankenbach.8 Dabei waren die Bewohner beider Ortsteile fromme Katholiken. Die einen mussten nach Oberpleis zur Sonntagsmesse, die anderen nach Stieldorf. Da gab es kein Vertun, wenn man auf die beiden Pfarrer hörte. Tatsächlich soll mancher Uthweiler das nicht nur verwechselt haben sondern völlig abtrünnig sogar in die 1906 neu erbaute Kirche in Rott gegangen sein.

In den beiden Kapellen in Uthweiler durften nur Andachten stattfinden, z. B. bei Sterbefällen. Zudem durfte in der St. – Michael - Kapelle zweimal im Jahr Gottesdienst gehalten werden: am 1. Mai und am Festtag des Kapellenpatrons. Die erste St. – Michael - Kapelle wurde 1879 aus Ziegelsteinen erbaut und zeigte zur Straße hin eine typische Gründerzeitfassade. Diese Kapelle gehörte zur Pfarrei Oberpleis.9

Außerdem hatte man etwas später, im Jahre 1885, im ,,Steeldebbe Uthwiele“ an der alten Dorfstraße, der heutigen Hauptmannstraße, die ,,Schreckenbergkapelle“ gebaut, die logischerweise zur Pfarrei Stieldorf gehörte. Die „Schreckenbergkapelle“ bestand aus Fachwerk. Als sie 1976 dem Grundstückseigentümer im Weg stand, konnte sie zerlegt und nach Wahlfeld versetzt werden.

Schule

Die ,,Pleese Uthwiele“ mußten nach Oberpleis zur Schule, die ,,Steeldebbe Uthwiele“ nach Stieldorf. Ist klar, oder? Franz Jonas aus Freckwinkel soll erreicht haben, dass seine Kinder nach Oberpleis in die Schule gehen durften. So fing die Unterwanderung der alten Ordnung an.
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Wohnhaus Pütz (gegenüber der Kapelle)


Und wie kommt das Stieldorfer Schulhaus von 1730 neben die Kapelle in Uthweiler, zur kompletten Verwirrung auch noch im ,,Pleese Uthwiele“? Fachwerkhäuser gehörten früher zur beweglichen Habe, waren mobil und nicht wie heutzutage immobil. Denn es kam eigentlich nur auf das Balkenwerk an. Das war wertvoll. Da konnte man die Holznägel herausziehen, alles schön ordentlich zerlegen und andernorts wieder zusammensetzen. Die Zimmermannszeichen an jeder Verbindungsstelle halfen, dass es kein Durcheinander gab. Den Baustoff für die Füllung der Gefache, dünne Eichenstaken, Haselnussruten, Stroh und Lehm, gab es überall. Eine Installation wie heute mit Wasserleitungen für warmes und kaltes Wasser, Abflüssen, Heizung, Strom und Telefon, Fernsehantenne gab es ja noch nicht. So hatte 1828 der Ur-ur-urgroßvater Pütz das Stieldorfer Schulhaus auf Abbruch gekauft und in Uthweiler daraus sein Wohnhaus gebaut.10

Bis hierher betrachtet verlief das Leben in Uthweiler ähnlich wie in den zahlreichen Nachbardörfern im Pleiser Hügelland. Man mühte sich auf dem Feld und im Stall ab, versorgte sich weitgehend selbst und versuchte ein Zubrot zu verdienen. War die Zugehörigkeit zu zwei Gemeinden eher eine Kuriosität, so gab es eine Summe bemerkenswerter Umstände, die das Leben in Uthweiler vielfältiger machten als in den umliegenden Dörfern.

Das Bähnchen

Wegen der Lage an der um die Mitte des 19. Jahrhunderts ausgebauten preußischen Provinzialstraße durch das Pleistal zogen viele Menschen und Fuhrwerke durch das Dorf. Nach der Eröffnung der Bahnstrecke von Niederpleis bis Herresbach im Jahre 1893, später verlängert bis Rostingen, nahm der Verkehr noch einmal erheblich zu.

Wird die Weltoffenheit des Rheinländers darauf zurückgeführt, dass er mit den durch das Rheintal ziehenden Menschen zurecht kommen und sich immer wieder mit Neuem arrangieren musste, so galt das um 1900 im Kleinen auch für die Uthweiler Bevölkerung.

Das Bähnchen diente nicht in erster Linie dem Personenverkehr, sondern hauptsächlich dem Gütertransport: Basalt, Quarzit und Ton. Uthweiler hatte vier Gleisanschlüsse: Von Niederpleis kommend führte ein Gleis zur Laderampe des großen Basaltbruchs an der Hardt. Das war damals der größte Steinbruch der Gegend. Der nächste Anschluss führte zum Düngemittel- und Kohlehandel auf dem Bauernhof Michael Dahm. Danach gab es noch einen Anschluss für die Tongruben und schließlich einen für den Basaltbruch Niederbuchholz.11 Aus den am Hang gelegenen Basaltbrüchen wurden die mit Steinen beladenen Kipploren über den sogenannten Bremsberg zur Verladestation ins Tal gelassen. Dabei zogen die vollen Loren über ein bebremstes Seil die leeren Loren wieder hoch. Energietechnisch perfekt!
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Gasthaus Reuter an der Haltestelle Uthweiler - Jüngsfeld, 1905


An der Bahnhaltestelle Uthweiler - Jüngsfeld hatte die Bahn einen Güterschuppen. Gegenüber der Haltestelle entstand kurz vor der Jahrhundertwende das Gasthaus von Josef Reuter. Die beiden heute so mächtigen Linden vor dem Gebäude waren noch fast so dünn wie Besenstiele. Neben den üblichen Gästen kehrten hier auch gerne die Arbeiter des nahe gelegenen Steinbruchs ein. Zudem waren die Gästezimmer bei Sommerfrischlern sehr beliebt, die aus Bonn, Köln und sogar aus Berlin kamen, um hier mit ihren Familien Urlaub zu machen.

Steinbrüche

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Unterbau des mechanischen Brechers

Die beiden Steinbrüche und die Tongruben gaben lange Zeit Arbeit, harte und gefährliche Arbeit. Im großen Basaltbruch an der Uthweiler Hardt ist 1894 Heinrich Jonas aus Freckwinkel tödlich verunglückt. Er hinterließ Frau und sieben Kinder. Auch wenn die Arbeit in den Steinbrüchen hart war, war sie sehr begehrt. Wenn eine kleine Hofstätte nicht genug Arbeit und Ertrag für die große Familie hergab, konnte das ein oder andere männliche Familienmitglied dort bares Geld verdienen. Neben Kleinschlag bzw. Schotter für den Straßenbau und als Bettungsmaterial der Eisenbahnschwellen, wurden auch ,,Möppchen“, kleine Pflastersteine, geschlagen.

Der große Basaltbruch an der Uthweiler Hardt wurde 1900 von Franz Meys, später von seinem Bruder Josef Meys, Landmaschinenfabrikant in Hennef, übernommen. Der Fortschritt bescherte dem Steinbruch Meys schließlich sogar ein mechanisches Brecherwerk, das elektrisch angetrieben wurde. Der aus Ziegelsteinen gemauerte turmartige Unterbau des Brechers steht heute noch im Wald. Dieses Brecherwerk verursachte bei den ,,Steinklöppern“ Arbeitslosigkeit. Da brauchte sicher mancher als Trost ein Quäntchen Schnaps zu 5 Pfennig das Gläschen in der Gaststätte Reuter. Aber ohne Mechanisierung konnten die Basaltwerke im harten Preiskampf mit der Konkurrenz nicht bestehen. Schließlich musste der Steinbruch doch, trotz High - Tech Anno 1909, kurz vor dem Ersten Weltkrieg stillgelegt werden. Die Steinvorkommen waren nicht mehr gut und ergiebig genug. Die Firma Meys verlagerte ihre Aktivitäten mitsamt dem Uthweiler Brecherwerk nach Nonnenberg und weitete den dortigen Betrieb aus.12

Weitere Arbeitsmöglichkeiten

Die Braunkohlengrube Satisfaktion am Kohlberg auf der linken Pleisbachseite zwischen Uthweiler und Freckwinkel war nur bis 1860 in Betrieb gewesen. Beim ersten Kapellenbau 1879 sollen Ziegelsteine der stillgelegten Grubenanlage wiederverwendet worden sein. Im Jahre 1919 versuchte man noch einmal, einen neuen Schacht abzuteufen. Die Arbeiten wurden jedoch nach einem halben Jahr auf Grund starker Wasserzuflüsse eingestellt.

Eine weitere Arbeitsmöglichkeit bot der 1877 gegründete Baumschulbetrieb Dahs -Reuter in Jüngsfeld, die erste Baumschule in unserer Gegend. Hier konnten bis zu 100 Leute Arbeit finden.13

Außerhalb von Uthweiler gab es einzelne Arbeitsplätze in den Hennefer Landmaschinenfabriken Reuther, Steimel, Jacobi und Meys. Eine ständig steigende Zahl an Arbeitsplätzen gab es in den beiden Siegburger Munitionsfabriken, der Königlichen Geschossfabrik und dem Feuerwerkslaboratorium. Die Zahl der dort Beschäftigten stieg in den Jahren 1882 bis 1917 von 700 auf 21500 Arbeiter und Arbeiterinnen.14 Der Weg dorthin zur Arbeit und zurück wurde oft zu Fuß zurückgelegt. Die Fahrt mit dem Pleistalbähnchen war zu teuer, und das Fahrrad hatte vermutlich aus Kostengründen noch keine allgemeine Verbreitung gefunden. Die Arbeit in den Fabriken wurde im Vergleich zur Steinbrucharbeit als leichter empfunden. Dieser Vorteil hatte allerdings den Haken, dass die dort produzierten Geschosse schließlich ihrem eigentlichen Zweck zugeführt wurden. 1914 begann der Erste Weltkrieg.

dahm-bild-10Das Foto zeigt Josef Jonas, den Büroangestellten des Kohlenhandels Dahm, in Soldatenuniform. Im Fotoatelier steht er vor einem Interieur im Jugendstil, diesem phantastischen, geschwungenen, lebensfrohen Kunststil. Kann der Gegensatz zwischen hoch entwickelter Kunst und militärischem Säbelrasseln größer sein?
Wer sein Zubrot nicht in den aufgezählten Betrieben verdienen wollte oder konnte, musste sich etwas überlegen. Peter Pütz (1867—1943) hatte die Idee, ein Milchgeschäft aufzuziehen. Es wurden die zwei Pferde Schimmel und Max, ein Wagen und viele Kannen angeschafft. Morgens um fünf Uhr ging es los. Zunächst wurden die Kannen auf den umliegenden großen Bauernhöfen mit Milch gefüllt. Dann lenkte man das Fuhrwerk nach Siegburg. Dort angekommen wurde die Milch an feste Kundschaft ausgetragen. Zusätzlich lieferte man auch Butter und Eier. Es musste ein zweiter Mann eingestellt werden, und auch Sohn Heinrich musste helfen. Am späten Mittag fuhr man dann wieder nach Hause und konnte sich um Feld und Garten kümmern.
Ideen musste man haben! Vielleicht bekam man damals auch leichter welche, denn Überfluss bis zum Verdruss gab es noch nicht.

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Schluss - Stein über der Tür zu Dahms altem Stall



1 Vgl. Robert Flink: Die Geschichte yon Oberpleis. Siegburg 1955, 8. 21 ff.

2 Notizen der Ackerwirtschaft. Handgeschriebene Kladde im Besitz der Familie Michael Dahm, Eintragungen von 1864 bis 1985

3 Mit „Extregator“ (richtig: “Extirpator”) ist wohl ein „Eerpelsplooch“ gemeint, ein Gerät zum Auspflügen von Kartoffeln und für ähnliche Arbeiten.

4 Die umfangreiche mündliche Überlieferung für diesen Beitrag beruht auf Aussagen und Hinweisen von Frau Anna Reuter, geb. 1901 und Frau Paula Walter, geborene Pütz, geb. 1906, sowie von Herrn Michael Dahm und Herrn Paul Reuter.

5 Vgl. Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland 23.5. Stadt Königswinter, bearb. v. Angelika Schyma, Köln 1992, S. 262 f.

6 Vgl. Th. A. Henseler: Das Verlagshaus Rommerskirchen-Neusser, Beiträge zur Geschichte des Bonner Buch- und Zeitungsverlages, 1952, S. 39 ff.

7 Vgl. Hans Töns: Hundert Jahre gesetzliche Krankenversicherung im Blick der AOK 1983, S. 27 ff.

8 Vgl. Erwin Düster: Die Gründung des Kirchspiels Oberpleis durch Erzbischof Wichfried im Jahre 948, in: Festschrift zur Tausendjahrfeier der Pfarrgemeinde St. Pankratius Oberpleis, 1948

9 Vgl. Festschrift zur Kircheneinweihung St. Michael zu Uthweiler 1968

10 Notiz in der handschriftlichen Familienchronik der Fam. Pütz

11 Vgl. Adolf Becker: Die Bröltalbahn / Rhein-Sieg-Eisenbahn, Troisdorf 1988, S. 41 und 110

12 Vgl. Werner Dahm: Der ehemalige Steinbruch in Uthweiler – Ein Riesenloch in Handarbeit. In: Jahrbuch des Rhein-Sieg-Kreises 1992. Siegburg 1991, S. 98ff.

13 Vgl. Hermann Jonas: Baumschulbetriebe und ihre Entwicklung, in: 100 Jahre Kapelle Uthweiler 1879-1979, Festschrift zur 100-Jahrfeier der Kirche St. Michael in Uthweiler, Pfingsten 1979, S. 57ff.

14 Vgl. Die Wacht am Rhein, Industrialisierung in Siegburg, Wegweiser in die Stadtgeschichte, Siegburg 1994, S. 7